KU-CHEN
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Ku-chen, Zeichnungen von Jörn Michael, 22.9.2004,

Annaberg-Buchholz, Ratsherrencafe Seit mir bekannt ist, dass die sogenannten Kuchen-Pappen – jene kleinen, unscheinbaren Pappstückchen, die dafür sorgen, dass Eierschecke und Co. den Transport vom Bäcker zum heimischen Kaffeetisch unbeschadet überstehen – für höhere Zwecke – nämlich für Kunst – durchaus geeignet sind, seit dem ist mein Kuchenkonsum enorm gestiegen ... Noch dazu, da ich weiß, dass die Kuchenpappen meines Geyerschen Stammbäckers von besonders guter Qualität sind, wie mir von Europas einzigem Kuchenpappenkünstler bestätigt wurde. Nun versuche ich seit geraumer Zeit, die interessantesten Kuchenpappen frisch auf den Ateliertisch nach Buchhoiz zu liefern ... Was mir bei täglichem Kuchenkonsum eigentlich nicht allzu schwerfallen dürfte ... Doch die Chefin meines Bäckers spielt nicht richtig mit, leider. Da kann der Pflaumenkuchen noch so feucht sein – an der Kuchenpappe wird gespart ... Allerdings habe ich ihr auch noch nicht von meinem spezieilen Interesse und den höheren Weihen, die den kleinen Pappen bevorstehen, berichtet. Wahrscheinlich würde sie es nicht verstehen und mir einen ganzen Stapel Pappen anbieten – aber eben frische, noch unbefleckte, die gar nichts nützen würden. Also hoffe ich immer auf die angestellte Verkäuferin, die pflichtbewusst bei jedem Stückchen Kuchen auch zur Pappe greift. Mit den Speziaikenntnissen von Europas einzigem Kuchenpappenkünstler kann ich mich – freilich noch lange nicht messen. Er weiß, welche Sorte für diese oder jene fettige Spur auf der Pappe verantwortlich ist, er kann von den kleinsten Farbresten auf den einstigen Fruchtbelag schließen; er kennt die Pappenformate und Qualitäten fast aller Bäckerein der Gegend. Ich weiß nur, dass Bienenstich und Mandelkuchen aufgrund ihres relativ hohen Fettgehaltes für eine recht intensive Durchdringung der Pappe sorgen. Genug zum Trägermaterial – nun zur Kunst. Denn keine Frage, seit Joseph Beuys ist das Material Fett zu einem festen Bestandteil moderner Kunst geworden. Ebenso hat das Prinzip Zufall in den künstlerischen Prozess seit langem Einzug gehalten. In seinen Kuchen-Zeichnungen, die in den letzten 2 Jahren entstanden sind, verbindet Jörn Michael seine Vorliebe für Unbeachtetes und Unscheinbares, das Spielen mit dem Zufall und seinen ausgezeichneten Blick für Strukturen und Mikrokosmen. Die vom Kuchen hinterlassenen Flecke bilden den Ausgangspunkt für das zeichnerische Abenteuer, in das er sich mit dem Tuschestift stürzt und mit feinen Linien oder meist mit Tausenden von Punkten auf Spurensuche begibt. Von vornherein ist niemals klar, welch Ergebnis erzielt wird – und darin liegt das Spannende, was für den Herstellungsprozess ebenso gilt wie für unsere Wahrnehmung. Es erscheint schließlich ein Bild auf der Pappfläche, welches das Ausgangsstadium nur noch erahnen lässt. Je frischer die Pappe, desto besser für das Arbeiten, denn um so stärker sind die Fettflecken noch erkennbar. Es liegt also sehr viel am ursprünglichen Zustand der Kuchenpappe: je nach Verteilung und Intensität der Flecke wird es ein über und über mit schwarzen Strukturen überzogenes Werk, voller brodelnder Wolken und pulsierender Energien oder eines/ das nur sehr spärlich, hier und da zarte Punkte zeigt – einsame Spuren, die wie Relikte als Überbleibsel von Vergangenem künden. Faszinierend für uns ist allemas der Einblick in eine Welt, die zunächst als unfassbar erscheint, die man nicht so recht verorten kann. Wie beim Blick durch ein Mikroskop in biologische Sphären oder durch ein Teleskop in ferne Galaxien treten Dinge vor das staunende Auge, die noch nie geschaut wurden und ganz offensichtlich dennoch vorhanden sind. Und damit sind wir beim Kern der Sache angelangt: Kunst gibt nicht das Sichtbare wider sondern macht sichtbar (Paul Klee). Jörn Michael vollführt mit seinen kleinen, kostbaren Zeichnungen genau dieses Sichtbarmachen des Unsichtbaren und zeigt, dass es sich öfter und überall lohnt, genau hinzuschauen – etwas, das nicht nur für die Kunst gilt. Und – ob Sie es glauben, oder nicht – die Kuchenpappen leben. Manche jedenfalls. Dadurch, das das Fett im Laufe der Zeit noch weiter von der Papierfaser hineingesaugt wird, begeben sich auch die Farbpigmente mit auf Wanderschaft und verändern somit langsam das Bild. Wie gesagt, auch das spricht dafür, die Werke ganz intensiv zu betrachten und in ein paar Tagen noch einmal nachzuschauen. Ein Stück Kuchen kaufen und essen ist nun etwas anderes als früher, als die Pappen noch unbeachtet in den Müll wanderten. Man darf es nur nicht so weit kommen lassen, dass man den Kuchen nur wegen der Pappe kauft.

Lassen Sie es sich schmecken.


Alexander Stoll, September 2004